Poesie- und Bibliotherapie

Die Heilkraft der Sprache, die entlastende und verwandelnde Wirkung von Texten, die man schreibt, sind seit ältesten Zeiten bekannt. „Erst kommt das Wort, dann die Arznei und dann das Messer“, meinte schon Theodor Billroth, 1829-1894, deutsch-österreichischer Arzt und Chirurg. Heute setzt man das therapeutische Lesen (Bibliotherapie) und das Schreiben und Gestalten von Texten (Poesietherapie) auch in der Behandlung von seelischen und psychosomatischen Erkrankungen ein.

Ein Gedicht, so die 2006 verstorbene Schriftstellerin Hilde Domin, werde, einmal formuliert, zum Gedicht des Lesers. So wie sich der Dichter im Akt des Schreibens selber begegnet, begegnet sich auch der Leser im Akt des Lesens. Die Selbstbegegnung des Dichters und die daraus folgenden Selbstbegegnungen sind zugleich einmalig und Modell von Begegnung überhaupt: mit anderen, mit der Wirklichkeit. Unwiederbringlicher Augenblick, Zeit außer der Zeit, eingefroren im Gedicht: auftaubar und jeweils neu und anders ins Fließen zu bringen.

Schreiben befreit. Das Innen wird zum Außen, es wird namhaft, ansehbar gemacht, erfahrbar. Benennen, Mitteilen des Erfahrenen machen den Menschen aus einem Objekt seiner Erfahrung, aus einem Gegenstand, zum Subjekt: und sei es nur auf einen Augenblick, den der hohen Bewusstheit seiner selbst und der ihm begegnenden Wirklichkeit.

Schreiben – und demnach auch Lesen – ist ein Training in Wahrhaftigkeit. Hinhören auf die stimmlose Stimme des Herzens heißt sich selbst nicht belügen. Und den Mut zu haben, die Erfahrung wahrhaftig zu benennen, sie zu sagen und an die Anrufbarkeit des anderen zu glauben.

Schreiben – und demnach auch Lesen – setzt das Innehalten voraus, das Sich-Befreien vom „Funktionieren“. Nur im Innehalten, nur wenn die programmierte Zeit stillsteht, kann der Mensch zu sich selber kommen, zu jenem Augenblick der Selbstbegegnung, der im Gedicht auf ihn wartet.

Dichtung ist zweckfrei. Alles, worauf es im Leben wirklich ankommt, ist zweckfrei. Die Kunst, die Liebe, die Freundschaft, das Glück: Alle sind nicht „um zu“, sondern um ihrer selbst willen da. Dichtung hat also nicht teil an den Entfremdungs- und Entpersönlichungsprozessen unserer Gesellschaft. Der schreibende und lesende Mensch tritt ein in eine andere Zeit, in die Zeit des zweckfreien Innehaltens. Im Augenblick des Schreibens – und Lesens – findet er Freiheit.

(Quelle: Hilarion G. Petzold/Ilse Orth: Poesie und Therapie: über die Heilkraft der Sprache. 2005, Sirius, Bielefeld und Locarno. Gekürztes Vorwort von Hilde Domin)

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